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ВИКТОР ШНИТКЕ
Стихотворения 

* * *
Ich habe gesprochen mit hundert Stimmen,
und keine war ich.
Ich habe geschwiegen mit tausend Stimmen,
und jede war echt.
 
Und doch ist mir manchmal,
als übt` ich durch Schweigen Verrat
an mir und den Meinen,
ais gäb` ich dadurch
uns alle dem Nichtsein preis.

 

Ein Menschenleben
Für meine Mutter

Wie alle urwüchsigen Wesen
sich Treue bewahren,
so warst du dem Menschlichen treu.
Du stammtest vom Lande,
doch weit über Acker und Weide
sah Leben dein gütiger Blick.
Nur wenige nannten dich Mutter,
doch wie vielen warst du
Schwester und Beistand
in Kummer und bitterer Not.

Der Krug deiner Sorgen war schwer,
doch es quoll unversiegbar
Freude und Liebe empor
aus dem tätigen Herzen.

Du warst voller Leben,
als jählings der Tod dich erlegte.
Und gleich einem Vogel,
dem plötzlich im Fluge das Herz bricht,
so glittst du hinab
in die kühle, verschwiegene Nacht.

 


* * * 

Wer Gedichte macht, ist ein einsamer Mann.
Er fängt mit dem Dichten aus Einsamkeit an
und ist dann einsam mit seinem Werk.

Seine Welt hat weder Vers noch Reim
und stürzt beim leisesten Beben ein.
Aus Trümmern muß er sie täglich erbaun.

 


* * *

Der Schnee ist Wiederkehr der Kindheit,
ist Tod und Auferstehn vom Tod,
ist Traum und gnadenreiche Blindheit —
Weiß deckt nun Schwarz, Weiß deckt nun Rot.
Der Schnee ist Wallfahrt in die Kindheit

 


* * *

Ein kleiner Ort an einem großen Fluß.
Die Gassen ungepflastert. Hohe Zäune.
Ein grüner Hof. Ein Wohnhaus. Eine Scheune.
Die Bauten alt, doch wie aus einem Guß.

Ein Mütterchen von hagerer Gestalt
macht sich zu schaffen an den Gurkenbeeten.
Tagsüber Arbeit: Kochen, Waschen, Jäten.
So bleibt man stark, wird man auch langsam alt.

Ein Junge, tief im Schatten, liest ein Buch.
Die Welt ist voller Wunder, und ihr Wesen
ist eine Melodie. Er hört beim Lesen
davon ein Bruchstück. Doch ein helles Tuch

verhüllt den Rest. Er ahnt, es kommt die Zeit,
da wird sich ihm das Ganze offenbaren.
Die Sonnenblumen ragen in den klaren
vorabendlichen Himmel. Weit und breit

kein Wölkchen. Eine sanfte goldne Flut
ergießt sich über Menschen, Städtchen, Steppe.
Die Sonne zaudert vor der steilen Treppe
des Untergangs. Sie sieht: Der Tag war gut.

 
 

* * *

Das sanfte Regenwasser im Faß
glich einem stillen Teich.
Ich langte hinein ins kühle Naß,
ein Langen dem Tauchen gleich.

Das dunkle knabenhafte Gesicht,
das mir entgegensah,
schien mir vertraut, doch ich kannt’ es nicht-
war es zu ernst, zu nah?

Blickte ich einem Vorfahren tief
ins Auge? War es ein Traum?
War es die Zukunft, die in mir schlief?-
Ich weiß es auch heute kaum.

 

 * * *

Das Brot war knapp. Es war das Abendbrot.
Am Morgen und am Tag—Kartoffelbrüh.
Ein Weltkrieg tobte. Doch das Abendrot
war voll Verheißung. Ja, ich ahnte früh

der Zukunft Unermeßlichkeit. Ich war
ein Junge, ich ging baden, und der Fluß
war Gegenwart des Ozeans. Gefahr
war Wagnis, und das Wagen ein Genuß.

Das Gras im Hof war Wiesenland. Ein Baum
vertrat den Wald, ein alter Gaul das Feld.
Ich kreiste frei in sonndurchstrahltem Raum
und war Bestandteil einer großen Welt.

 

 

 

* * *

Ich sah dich selten. Wenn auch klein, der Ort
verlief sich in drei Dutzend krumme Gassen,
und jede hielt in ihrem Schoß gelassen
ein ganzes Volk. Wir wechselten keim Wort,

wenn wir uns trafen — immer mittendrin
im Treiben, im geschäftigen Gewimmel
der Menge. Doch im Mai, wenn blank der Himmel
und stark der Fluß in seinem Eigensinn,

begegnete ich dir am steilen Hang
des Ufers, vor der warmen morschen Treppe am
Wasserrand und draußen auf der Steppe. Dann
sprachen wir (und schwiegen)
                                    stundenlang.

 

 

* * *

Eine Gruppenaufnahme

 

Ich konzentriere mich auf dein Gesicht.
So jung, so schön wie da — so sah ich’s nie.
Ich war noch nicht geboren, war noch nicht
ein Glied von dieser Kette. Aber wie,

wie war es möglich, daß schon damals du
die ganze Zukunft in dir trugst, und was
erfüllte dich mit dieser tiefen Ruh?
Ein Bild aus ferner Vorzeit, etwas blaß.

Doch unverkennbar deine Eigenart.
So warst du, Mutter: schlicht und ohne Scheu.
Kein Tropfen Bitternis blieb dir erspart.
Du nahmst es hin. Du warst der Zukunft treu.

 
 

*  * *

Jetzt kann ich Dürer werden,
Mozart, Thomas Mann —
du, liebe Mutter, wirst davon
nichts wissen.

Kann rauben, morden
und am Galgen enden —
du wirst es nie erfahren,
nie mehr helfen.

Ich bin allein.
Die Welt starrt mir ins Aug.

 


*  * *

Meine Vorfahren waren Bauern,
durchzogen das Feld mit dem Pflug —
bei strahlender Sonne und Schauern,
bei Falter- und Vogelflug.

Durchschreitend die zeitlose Ebene
im stetigen Hin und Zurück,
bejahten sie stumm das Gegebene
und wünschten kein andres Geschick.

Ich will mit dem Schicksal nicht hadern,
doch brodelt dem Städter bei Nacht
das Bauernblut in den Adern,
durch Träume in Aufruhr gebracht.

 
 

*  * *

Wir saßen da im hellen Licht der Kerzen.
Die Mutter trug die guten Speisen auf.
Der Ofen summte. Freude sang im Herzen.
Ein Märchen war’s, ein Märchen wie von Hauff.

Dann saß die Mutter auch am Tisch. Der Vater
goß in die Gläser sprudelnden Wein.
Wir stießen an. Der Wein war herb, doch tat er
dem Gaumen wohl. Die Sterne sahn herein

in unser Zimmer. Glitzernde Tannen
umstanden dicht das schneeumwehte Haus.
Der Winter schien die Erde zu umspannen
und lief ins ferne Mondgebirge aus.

 

 

*  * *

Wir nahmen uns so vieles vor
als Kinder.
Die weite Welt lag vor dem Tor.
Ein Blinder,
ein Krüppel mit dem Bettelsack
war Bote
des Horizonts. Das morsche Wrack,
die Boote
am Ufer forderten uns auf
zum Wandern.
Der Fluß in seinem stummen Lauf
zu andern,
uns fremden Orten riß uns mit.
Die Winde
der Steppe gruben einen Schnitt
dem Kinde
ins Herz, und er vernarbte nie.
Die Sterne
am Himmel — was verschwiegen sie?
Die Ferne
war aller Schöpfung tiefer Chor,
nicht minder …
Wir nahmen uns so vieles vor
als Kinder.

 

 

 

 

*  * *

Im Tintenschwarz der tiefsten Nacht
ertönt die heisere Sirene.
Ein Schiff legt ab. Ich winke sacht.
In einer Dampf- und Feuermähne
fährt es davon. Ihr steht auf Deck.
Ihr scheint mein Winken nicht zu sehen.
Schon blinkt mir nur das Licht am Heck,
schon zieht das Schiff auf dunklen Seen
des Schlafs in die verschwiegne Welt
der Kindheit, der Familienmythen ...
Ein Abglanz eures Nichtseins fällt
in meine Welt. Ich will ihn hüten.
 
 
*  * *
Abend
Zigeuner zelteten vor der Stadt
auf der freundlichen Frühlingserde.
Nach der schmalen Winterkost wieder satt,
ruhten im Gras die Pferde.
 
Die Männer saßen ums Feuer herum,
die Frauen machten das Essen.
Die sinkende Sonne betastete stumm
die Welt, die sie heute besessen
und nun wieder aufgab: die friedliche Flur,
die Menschen, die Pferde, die Zelte ...
 
Die Farben erloschen. Es leuchteten nur
Zinnober und Purpur, als gelte
im Spektrum der oberste Streifen allein.
Und alles, was lebte und blühte
und einfach bestand wie der leblose Stein,
war eins, bis der Abend verglühte.
 
Zigeuner lagerten auf dem Feld
und wußten nichts von Gefahren.
Die Sterne strahlten am Himmelszelt
wie vor hundert und tausend Jahren.
 

 

*  * *

Die Wege der Steppe sind lang
und haben am Ende kein Ziel.
Die Seen der Steppe sind still
und spiegeln das fernste Gestirn.
 
Der Wechsel von Sonne und Mond,
von Sommer und Winter ist ihr
so viel und so wenig wie uns
das Lispeln der Gräser im Wind.
 
Wer einmal die Steppe erlebt,
ist nie mehr derselbe. Er hört
die Stimmen der Ferne. Er nimmt
die Sehnsucht nach ihr in den Schlaf.

 

 
*  * *
 
Im Rubljow-Museum
 
Wir ziehen durch den grünen Hof.
Die Pappeln rauschen wie die See.
Da ragt aus weißem Löwenzahn
die Kathedrale. Dicht davor,
 
unter der Gräserdecke, ruht-
fünfhundertfünfzig Jahre tief-
ein Maler, der Ikonen schuf
wie wohl kein andrer auf der Welt.
 
... Ich höre kaum dem Führer zu.
Ich denke an Ikonen — was
das Magische an ihnen sei?
Ich weiß die Antwort nicht. Nur dies:
 
Ikonen strahlen Ruhe aus.
Ikonen strahlen Frieden aus.
Ikonen sind wie Gras und Laub
ein stummes Ja dem Sein.
 

 

*  * *

Ich hab mich in fremde Sprachen verirrt,
zu fremden Stämmen gesellt.
Mit vierundvierzig steh ich verwirft
in einer fremden Welt.
 
Der Heimweg wird wohl ein weiter sein.
Ich fürchte, ich schaff es nicht.
Als Wegweiser da — ein beschriebener Stein,
dort — ein erloschenes Licht.
 
 

*  * *

Der Junge
 
 
Er stand im Bann der Jahreszeiten.
Sie glichen Jahren und Jahrzehnten.
Er sehnte sich nach Weltenweiten,
die sich nach einem Wandrer sehnten.
 
Er sah die Frucht im harten Samen,
den starken Fluß im Frühlingsregen.
Er fragte nicht nach Sinn und Namen-
er war beim Schöpfungsakt zugegen.
 
 

*  * *

Wenn ich im Herbst über die Felder geh
und die Natur mir ihre Not verkündet,
so weiß ich kaum, was mich ans Leben bindet -
ob Todesangst, ob Sehnsucht nach dem Schnee.
 
Dann kommt ein Morgen — und die Welt ist
                                                   weiß.
Ich seh auf einmal: Ja, es gibt noch Raben.
Es gibt noch Pferde, die vor Schlitten traben.
Es zuckt noch Leben unter Schnee und Eis.
 
Dann klirrt der Frost, dann schlägt bei Nacht
                                               die Uhr
wie eine Glocke, und die Sterne scheinen
so matt. Die Bäume stehn erstarrt zu Steinen,
und Wochen währt das Koma der Natur.
 
Doch eines Abends glüht der Himmel rot,
als stände fern ein großer Wald in Flammen.
Dann kommt der Wind. Der Winter bricht
                                           zusammen,
und die Natur ersteht aus ihrer Not.